Er hielt dicht. Kein Sterbenswörtchen sagte er – niemandem, nicht einmal seiner Haushälterin, die ihm seit fast 20 Jahren treu zur Seite steht. «Ich war eingeweiht», sagt Papst-Bruder Georg Ratzinger der Nachrichtenagentur dpa, als er am Telefon auf die sensationelle Rücktrittsnachricht von Benedikt XVI. angesprochen wird. Als Grund für den Rücktritt nennt der 89-Jährige wie der Papst auch die angeschlagene Gesundheit «vom Joseph», wie Georg Ratzinger seinen Bruder auch nach der Wahl zum katholischen Kirchenoberhaupt weiterhin anredete.
Ohne äußere Regung – so beschreibt es Haushälterin Agnes Heindl – fährt der gehbehinderte alte Mann am Montagmittag mit dem Treppenlift vom 1. Stock seines Wohnhauses in der Regensburger Altstadt ins Erdgeschoss, um dort das Mittagessen einzunehmen. Die Nachricht vom Amtsverzicht seines Bruders kommt für den einstigen Domkapellmeister nicht überraschend. Seit Monaten habe er von der Entscheidung des Papstes gewusst, sagt er der dpa, aber Stillschweigen gewahrt.
Nicht einmal seine engsten Freunde wussten etwas. Am Telefon sagt Haushälterin Heindl auf die Nachricht noch: «Das ist völlig ausgeschlossen, dass der Heilige Vater zurücktritt.» Als sie die Sensation von ihrem Hausherrn aus erster Hand erfährt, ist sie erschüttert. Nicht einmal sie, die engste Vertraute des Papst-Bruders, war eingeweiht worden.
«Das Alter drückt», sagte der 89-Jährige der dpa am Telefon. Der Leibarzt habe dem Papst geraten, keine transatlantischen Reisen mehr zu unternehmen. Auch das Gehen bereite seinem Bruder zunehmend Schwierigkeiten, erläutert Georg Ratzinger. Zudem ermüde der Papst rascher als früher, fügt er hinzu. «Mein Bruder wünscht sich im Alter mehr Ruhe.»
Der frühere Leiter der weltberühmten Regensburger Domspatzen wirkt gefasst, ja fast erleichtert, als er aus der ganz persönlichen Warte des Papst-Bruders die Beweggründe für dessen sensationellen Rücktritt erläutert. Seine Stimmungslage vor acht Jahren war ganz anders. Als am 19. April 2005 die Nachricht von der Wahl Joseph Ratzingers zum Papst verkündet wurde, sackte der gut drei Jahre ältere Bruder Georg vor dem Fernseher zusammen und brachte kein Wort heraus. «So habe ich ihn noch nie erlebt», sagte Agnes Heindl damals. Es dauerte einen ganzen langen Tag, bis sich der einzige enge Verwandte des neuen Papstes gefangen hatte. «Ich werde wohl öfter nach Rom kommen müssen», sagte er am Tag danach schon wieder bei guter Laune.
Doch dann kam der Papst sogar noch einmal zu seinem Bruder nach Regensburg. Als Benedikt XVI. im Jahr 2006 Bayern besuchte, kehrte er im Haus von Georg Ratzinger ein und aß mit ihm zu Mittag. Anschließend besuchten beide Brüder das Regensburger Grab ihrer Eltern sowie der 1991 gestorbenen Schwester Maria und zogen sich danach für ein paar Stunden in das frühere Wohnhaus Joseph Ratzingers im Vorort Pentling zurück.
Damals wirkte der Papst noch frisch – keine Spur von Müdigkeit oder den zuletzt so oft zu beobachtenden Gehproblemen. Und nun der Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen. Doch wer nach der Ernennung Ratzingers zum Papst auf die Worte des Bruders hörte, konnte schon damals Zweifel an dessen Belastbarkeit heraushören: «Ich hatte geglaubt, dass die nicht ganz so stabile Gesundheit meines Bruders die Kardinäle bewogen hätte, einen etwas Jüngeren zum Papst zu wählen», sagte Georg Ratzinger am 20. April 2005, einen Tag nachdem weißer Rauch aus der Sixtinischen Kapelle aufgestiegen war. Und weiter: «Ich hatte gehofft, dass der Kelch an ihm vorübergeht.»
Beide Brüder hielten stets engen Kontakt. Auch seit der Wahl zum katholischen Kirchenoberhaupt besucht Georg Ratzinger den Papst in dessen Wohnung im Vatikan oder in der Sommerresidenz Castel Gandolfo regelmäßig. Mehrmals in der Woche sprechen beide über ein Telefon mit Geheimnummer miteinander. Sie reden dann über Belangloses wie das Wetter daheim oder gemeinsame Bekannte, wie Georg Ratzinger einmal verriet. Wesentliches wird sich auch nach dem Rücktritt des Papstes am geschwisterlichen Umgang der beiden hochbetagten Brüder nicht ändern. Georg Ratzinger wird wohl in Regensburg bleiben – und der zurückgetretene Papst zieht sich in ein Kloster im Vatikan zurück.
dpa