Im Missbrauchsskandal um die Regensburger Domspatzen sieht sich der deutsche Kardinal Gerhard Ludwig Müller zu unrecht an den Pranger gestellt. «Es gibt keine Basis für die Anschuldigungen, ich hätte die Aufarbeitung verschleppt, das Gegenteil ist der Fall», sagte Müller am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur in Rom. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung hatte zuvor eine Entschuldigung von Müller gefordert. «Es wäre den Betroffenen zu wünschen, dass er sich wenigstens jetzt für die verschleppte Aufarbeitung entschuldigen würde», sagte Johannes-Wilhelm Rörig in der «Passauer Neuen Presse» (Mittwoch).
Der damalige Regensburger Bischof Müller hatte bei Bekanntwerden der Gewalttaten 2010 eine Aufarbeitung in die Wege geleitet. Diese war aber laut des am Dienstag vorgestelltem Abschlussberichts mit vielen Schwächen behaftet, etwa weil nicht der Dialog mit den Opfern gesucht worden sei. Unter Müller sei eine umfassende, proaktive Aufarbeitung unter Einbeziehung von Betroffenen versäumt worden, kritisierte Rörig. Dem heutigen Kardinal war wiederholt vorgeworfen worden, die Aufklärung behindert zu haben.
«Wir haben den Aufarbeitungsprozess von Null an initiiert und reagiert, indem wir die Meldungen weitergeleitet haben, was vorher nicht so möglich war, weil die Domspatzen eine eigenständige Stiftung sind», entgegnete Müller am Mittwoch. Die Meldungen über Straftaten seien bis zu seinem Weggang 2012 nach Rom «ordnungsgemäß behandelt worden». Müller forderte von Rörig eine Entschuldigung. «Ich fordere ihn auf, sich für die unwahren Behauptungen von Verschleppung zu entschuldigen und diese abzustellen.»
Müller, der fünf Jahre der Glaubenskongregation im Vatikan vorstand, die auch für Aufklärung von Missbrauchsfällen zuständig ist, hatte zuvor in einem Interview mit der dpa angesichts von Missbrauchsfällen vor einer pauschalen Verurteilung der Kirche gewarnt: «Es ist offensichtlich, dass die katholische Kirche bei dem Thema härter angegangen wird, dass Priester a priori verdächtigt werden.»
Das Interview wurde am 10. Juli geführt und damit noch vor der Veröffentlichung des Abschlussberichts zur Aufklärung des Domspatzen-Skandals am Dienstag. Demnach wurden mindestens 547 Chorknaben Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt.
«Es gibt Geistliche – Gott sei es geklagt – die solche Verbrechen begangen haben. Aber deshalb kann man nicht die anderen, nur weil sie auch Priester sind, kollektiv verdächtigen», sagte der 69-Jährige. Prozentual gesehen sei das mit Blick auf die Gesamtzahl der Geistlichen in der Welt sogar weniger als bei vergleichbaren pädagogischen Berufsgruppen. «Was die Straftat natürlich in keinster Weise entschuldigt und das Leiden der Opfer mindert.»
Papst Franziskus hatte Müllers Amt als Präfekt der Glaubenskongregation Anfang Juli überraschend nicht verlängert. Müller wehrte sich gegen den Vorwurf, er habe bei der Kongregation die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen behindert.
Die Organisation «Wir sind Kirche» forderte eine weitergehende Aufklärung zu möglichen Gewaltfällen innerhalb von Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen. Dem Abschlussbericht müssten weitere Schritte im Bistum Regensburg und in anderen Bistümern folgen. Der Bericht mache deutlich, dass Gewalt lange unter dem Aspekt des Einzelfalles behandelt worden sei, ohne die systemischen Bedingungen zu berücksichtigen, die die Taten ermöglichten.
«Auch durch Priester in der Seelsorge ausgeübte sexuelle Gewalt muss unter gleichen Bedingungen ausgewertet werden», teilte «Wir sind Kirche» mit. «Denn auch Ordinariate und kirchliche Hierarchien stellen geschlossene Systeme dar, die diese Form der Gewaltübergriffe ermöglicht und viel zu lange vertuscht haben.»
dpa/MF