Ein neues Gutachten zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising stellt der katholischen Diözese ein schlechtes Zeugnis aus. Auch in jüngster Zeit habe kein «Paradigmenwechsel» mit dem Fokus auf die Betroffenen stattgefunden, sagte Martin Pusch von der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW), die das Gutachten im Auftrag des Bistums durchgeführt hat, am Donnerstag in München. «Bis in die jüngste Vergangenheit und teils auch heute noch begegnen Geschädigte Hürden.» Ein aktives Zugehen auf die Opfer gebe es nicht. Die «Wahrnehmung der Geschädigtenbelange» sei «auch nach 2010 unzulänglich». Pusch sieht ein «generelles Geheimhaltungsinteresse» und den «Wunsch, die Institution Kirche zu schützen».
Die Studie listet mindestens 497 Opfer auf. Dabei handele es sich überwiegend um männliche Kinder und Jugendliche im Zeitraum zwischen 1945 und 2019, teilte die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) am Donnerstag in München mit. Sie hatte das Gutachten im Auftrag der Erzdiözese erstellt. Mindestens 235 mutmaßliche Täter gab es laut der Studie – darunter 173 Priester und 9 Diakone. Allerdings sei dies nur das sogenannte Hellfeld. Es sei von einer deutlich größeren Dunkelziffer auszugehen.
Außerdem kommt das Gutachten zur Studie zu sexuellem Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising zu dem Schluss, dass viele Priester und Diakone auch nach Bekanntwerden entsprechender Vorwürfe weiter eingesetzt worden seien. 40 Kleriker seien ungeachtet dessen wieder in der Seelsorge tätig gewesen beziehungsweise dies sei geduldet worden, teilte die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) am Donnerstag in München mit. Bei 18 davon erfolgte dies sogar nach «einschlägiger Verurteilung», wie Rechtsanwalt Martin Pusch sagte. Insgesamt seien bei 43 Klerikern «gebotene Maßnahmen mit Sanktionscharakter» unterblieben. Die Kanzlei hat ihr Gutachten im Auftrag der Erzdiözese erstellt. Es geht dabei um den Untersuchungszeitraum von 1945 bis 2019.
Ein Gutachten lastet dem emeritierten Papst Benedikt XVI. in vier Fällen Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch während seiner Zeit als Erzbischof des Bistums München und Freising an. Das sagte der Jurist Martin Pusch am Donnerstag bei der Vorstellung des Gutachtens in München. In allen Fällen habe Benedikt – damals Kardinal Joseph Ratzinger – ein Fehlverhalten strikt zurückgewiesen.
Der emeritierte Papst war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising. Er habe umfangreich Stellung zu den Vorwürfen genommen, betonte Pusch. Dies sei im Wortlaut Teil des Gutachtens enthalten.
Kritiker werfen Ratzinger schon seit geraumer Zeit Fehlverhalten vor – konkret beim Umgang mit einem Priester aus Nordrhein-Westfalen. Der Mann soll vielfach Jungen missbraucht haben und wurde zur Amtszeit Ratzingers aus NRW nach Bayern versetzt, wo er rechtskräftig wegen Kindesmissbrauchs verurteilt wurde und immer wieder rückfällig geworden sein soll.
Allein dieser Fall macht 370 Seiten des insgesamt mehr als 1700 Seiten starken, vom heutigen Erzbischof Kardinal Reinhard Marx in Auftrag gegebenen Gutachtens aus.
Laut dem Missbrauchsgutachten ist der emeritierte Papst Benedikt XVI. 1980 außerdem als Erzbischof von München und Freising bei einer brisanten Sitzung anwesend gewesen. In dieser Sitzung wurde entschieden, dass ein bekanntermaßen pädophiler Priester in das Erzbistum München übernommen und wieder in der Seelsorge eingesetzt werde. Benedikt, der damalige Kardinal Joseph Ratzinger, bestreitet dies und versichert, er habe an der Sitzung nicht teilgenommen. Der Gutachter Ulrich Wastl präsentierte jedoch eine Kopie des Sitzungsprotokolls, wonach Ratzinger durchaus teilnahm. Demnach berichtete er in der Sitzung unter anderem von Gesprächen mit Papst Johannes Paul II.
Er halte Benedikts Angabe, er sei in dieser Sitzung nicht anwesend gewesen, für «wenig glaubwürdig», sagte Wastl. Der übernommene Priester missbrauchte anschließend erneut Kinder.
Marx selbst halten die Anwälte Fehlverhalten im Umgang mit zwei Verdachtsfällen von sexuellem Missbrauch vor. Es gehe dabei um Meldungen an die Glaubenskongregation in Rom. Marx war bei der Vorstellung nicht anwesend.
Auch Ratzingers direktem Nachfolger als Münchner Erzbischof, Kardinal Friedrich Wetter, wirft das Gutachten, das den Zeitraum zwischen 1945 und 2019 untersucht hat, Fehlverhalten in 21 Fällen vor. Wetter habe die Fälle zwar nicht bestritten, ein Fehlverhalten seinerseits aber schon, sagte Pusch. Sein Kollege, der Anwalt Ulrich Wastl, sprach von einer «Bilanz des Schreckens».
Auch dem früheren Erzbischof von München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter, wirft das Gutachten 21 Fälle von Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch vor. Das sagte der Jurist Martin Pusch am Donnerstag bei der Vorstellung des Gutachtens in München. Wetter habe die Fälle zwar nicht bestritten, ein Fehlverhalten seinerseits aber schon, sagte Pusch.
dpa/JM